Start Seite
Inhaltsverzeichnis
Landkarte
Bilder Galerie
Links
 
"CECI N`EST PAS UN PISSOIR"
     ENTDECKUNG DER SITUATION
Schon mehrfach war ich an dieser Stelle vorbeigekommen und von Anfang an war sie mir im Gedächtnis geblieben:
Direkt am Wegesrand standen zwei große Laubbäume, die über dem Boden zusammengewachsen waren. Der eine Stamm besaß eine große Aushöhlung am unteren Ende. Die Öffnung war oval und etwa 30x45 cm groß. Das Innere der Aushöhlung reichte recht tief in den Stamm hinein und war gefüllt mit modrigem, schmutzigem Wasser, verfaulten Blättern und kleinen Ästen.
Die Assoziation eines Pissoirs hatte sich sofort eingestellt, nachdem ich den Baum wahrgenommen hatte.
ERSTER KUNSTHISTORISCHER AUSFLUG: MARCEL DUCHAMP - "FOUNTAIN" (1917)
Die Assoziation eines Pissoirs weckte die Erinnerung an ein Werk von Marcel Duchamp:
1917 entstand eines von DUCHAMP ersten (auch schon als solches bezeichneten) Ready-mades: Fountain.
"Meine Pissoir-Fontäne ging von der Idee aus, eine Exerzierübung durchzuspielen über die Frage des Geschmacks: jenes Objekt auszuwählen, das am wenigsten Chance hatte, geliebt zu werden. Eine Pissoirschüssel - es gibt sehr wenig Leute, die das wunderbar finden. Denn die Gefahr ist das künstlerische Ergötzen. Aber man kann veranlassen, daß die Leute alles schlucken: Das ist dann auch passiert." (Marcel Duchamp)
Pissoir
Um mit dem Baum arbeiten zu können, wollte ich zunächst die Höhle von Schlamm und Laub befreien. Der Geruch, der aus dem vermoderten Inneren des Stammes drang, war äußerst unangenehm und wurde durch die Assoziation eines Pissoirs interessanterweise noch verstärkt. Scheinbar löste die visuelle Assoziation gleichzeitig Geruchsassoziationen in mir aus.
Im Gegensatz zum Baumgrab, welches ganz ohne Hilfsmittel entstand und auch entstehen mußte, war mir in diesem Fall sofort klar, daß ich nicht auf Hilfsmittel verzichten konnte und für den künstlerischen Kontext auch nicht zu verzichten brauchte.
Um den Schlamm aus der Höhle zu entfernen, benötigte ich eine Kelle oder Ähnliches. Zwischen den mitgebrachten Materialien fand ich kleinere Schüsseln, die in die Höhlung paßten, und einen Eimer. Zusätzlich besorgte ich eine Suppenkelle aus der Teeküche unserer Unterkunft. Da die situation trouvée bereits ein Pissoir für mich verkörperte, wollte ich nicht, daß jemand erfuhr, wozu ich sie brauchte! Auch verwende ich von nun an die Bezeichnungen des Pissoirs und seiner einzelnen Bestandteile - nicht mehr die organischen Bezeichnungen des Baumes.
SÄUBERUNG DES PISSOIRS
Trouvé Pissoir
Mit den nötigen Gerätschaften ausgestattet, begann ich, Schlamm und Laub aus dem Stamm herauszuschöpfen und am Seeufer zu entsorgen. Ich war erstaunt, wie tief der Stamm ausgehöhlt war. Es schien mir eine Ewigkeit zu dauern, bis das Gröbste entfernt war.
Anschließend hatte ich vor, das Pissoir mit frischem, sauberem Wasser aufzufüllen, doch war das Becken viel zu tief geworden. Außerdem sah der Beckenboden immer noch schlammig aus. Deshalb beschloß ich, das Becken mit Kieselsteinen anzufüllen, die mir eine Kommilitonin dann freundlicherweise vom Parkplatz unserer Unterkunft besorgte.
Durch die Steine erhoffte ich mir einen hellen Untergrund für das frische Wasser. Mit Hilfe von Eimer und Schüsseln transportierte ich Wasser aus der Herberge in den Wald und kippte es ins Pissoir.
Zu meiner Enttäuschung musste ich feststellen, daß das Wasser sofort wieder schmutzig und trübe wurde, da es den restlichen Schlamm aufwirbelte, wodurch die Steine kaum noch zu sehen waren.
DER BECKENBODEN
Becken Boden Besichtigung
Also stellte ich neue Überlegungen bezüglich des Beckenbodens an:
Ich brauchte etwas Weißes, womit ich den Boden sichtbar machen konnte. Unsere Dozentin hatte weiße Lackfolie mitgebracht, von der ich ein ovales Stück ausschnitt und ins Pissoir legte. Leider stellte sich die Folie als zu instabil heraus. Das Wasser zerknüllte sie und trieb sie hin und her.
Mir fiel ein, daß ich bei der Montage-Gruppe eine Art weiße, aufgeschäumte Folie gesehen hatte und bat darum, mir ein Stück abschneiden zu dürfen.
Dieses Material eignete sich sehr gut. Es war stabil genug, um eine glatte Ebene zu ergeben und ließ sich gut am Beckenrand festklemmen. Optisch erinnerte es an schaumiges, glitzerndes Wasser und außerdem war es strahlend - geradezu hygienisch - weiß. Das Wasser drang nur in geringen Mengen an den Rändern durch, so daß es ziemlich klar wirkte. Mit dieser Lösung war ich zufrieden.
DER RAND
der Rand
Nun stellte ich mir die Frage, wie der äußere Rand des Beckens aussehen sollte.
Um den Eindruck eines Pissoirs zu verstärken, wollte ich den Rand besonders hervorheben. Die ovale, vertikale Öffnung sollte noch prägnanter werden. In Anlehnung an das Original kam für mich nur die Farbe Weiß für die Gestaltung in Betracht, da sie die Standardfarbe für Pissoirs, besonders im öffentlichen Bereich, darstellt.
Von der Gestaltung des Beckenbodens war noch weiße Lackfolie übriggeblieben, allerdings nur in Form von schmalen, langen Streifen. Ich hielt die Folie probehalber an den Rand des Beckens und stellte fest, daß das Material gerade ausreichend war, um den Rand rundherum mit Folie einzufassen. Die Schwierigkeit bestand in der Unregelmäßigkeit des Randes und in seiner ovalen Form. Es war also nicht möglich, eine glatte Oberfläche herzustellen. Während des Ausprobierens entstand ein starker Faltenwurf, der die Oberfläche weich erscheinen ließ. Erinnerungen an Objekte von Claes Oldenburg wurden wach. Hatte er nicht häufig harte Gegenstände in weiche verwandelt? Und hatte er nicht oft mit lackähnlichen Materialien gearbeitet?
ZWEITER KUNSTHISTORISCHER AUSFLUG: CLAES OLDENBURG - "SOFT TOILET" (1966)
Soft Toilet
Claes Oldenburg, Bildhauer und Pop-Art-Künstler befaßt sich seit den sechziger Jahren mit Alltagsgegenständen der Gesellschaft. Er macht Hartes weich, Kleines groß usw..
Ein Gegenstand wird von ihm aber nicht einfach nur aus seinem Kontext herausgelöst und in den Kontext der Kunst eingefügt, sondern er wird "auf Grund seiner eigenen Würde überhöht, für den Charme und den Unterschied, die es von allen anderen Dingen abheben. Oldenburg "demütigt" es auch nicht, um zu dieser "Personifizierung" des Objektes zu gelangen, und verzerrt es auch nicht in bezug auf seine Funktion oder seinen Namen, wie etwa Duchamp. Er überhöht es statt dessen in seiner absoluten Einzigartigkeit." (Germano Celant)

Das Problem der Faltenbildung durch die Folie, welches auch mich beschäftigte (was ergibt sich für ein Effekt, was macht die Wahl des Materials mit meinem Pissoir, welchen Effekt möchte ich überhaupt erzielen?), wurde von Oldenburg in seine Arbeit integriert, wobei bei seinen Objekten vor allem die Schwerkraft eine zentrale Rolle spielte:

"Die Komplexität ergibt sich aus der gewellten Form des Materials. (...) Je nach den Umständen, dem Verhalten der Nähte und vor allem der Komplexität des neu angeordneten und neu zusammengesetzten Gegenstandes verkehrte sich die Natürlichkeit jedoch manchmal in Künstlichkeit. Phantastische Rokoko-Effekte ergaben sich, wenn die Wellenkämme der aufsteigenden und abfallenden Bewegung des Stoffs ein helles, bühnenmäßiges Licht einfingen (...)." (Coosje van Bruggen)
DIE BEFESTIGUNG DER LACKFOLIE
Zunächst entschloß ich mich dazu, die Folie auf dem Beckenrand so anzubringen, daß einigermaßen regelmäßige Falten entstanden. Da die Folie nicht lang genug war, um einmal um das ganze Becken herumzureichen, schnitt ich sie einmal längs durch, so daß ich zwei etwa gleichbreite und gleichlange Streifen erhielt. Um eine Längsachse mit dem Baumstamm zu bilden, bevorzugte ich zwei senkrechte Schnittstellen am oberen und unteren Beckenrand (anstelle von waagerechten Schnittstellen links und rechts).
Für die Befestigung wählte ich Reißzwecken mit weißverkleideten Köpfen, die sich optisch gut dem Material der Folie anpassten. Um den Eindruck eines maschinell bzw industriell gefertigten Pissoirs zu erreichen, sollten die Abstände zwischen den einzelnen Reißzwecken möglichst gleich sein.
DIE SPRACHLICHE EBENE
Ein weiterer Einfall, den ich zu meinem Pissoir hatte, war die Tatsache, daß es sich ja nicht wirklich um ein solches handelte und auch nicht handeln sollte. Ich gab meiner Arbeit zwar diesen Namen und versuchte gewisse Ähnlichkeiten anzudeuten und Beziehungen zu anderen Kunstwerken herzustellen, doch es blieb nun einmal ein Baumstamm.
In diesem Zusammenhang fielen mir Parallelen zum Künstler René Magritte auf.
DRITTER KUNSTHISTORISCHER AUSFLUG: RENÉ MAGRITTE - "CECI N`EST PAS UNE PIPE" (1929)
René Magritte hatte 1929 ein Bild fertiggestellt, auf dem eine Pfeife abbgebildet war und unter der zu lesen stand: "Ceci n`est pas une pipe" (Dies ist keine Pfeife).
DAS ANBRINGEN DER SCHRIFT
Den Schriftzug "Ceci n`est pas un pissoir" wollte ich direkt über dem Pissoir am Baumstamm anbringen. Bei näherer Betrachtung des Baumstammes fielen mir die zahlreichen Schnitzereien auf, die über den ganzen Stamm verteilt waren: kleine eingeritzte Muster, Initialen oder Namen. Teilweise waren sie schon sehr nachgedunkelt und kaum noch zu erkennen. Manche Schnitzereien waren nur noch kleine Narben in der Rinde des Baumstammes.
Ceci n´est pas un pissoir 1
Die Idee, zum selben Stilmittel zu greifen, um meinen Satz anzubringen, gefiel mir. Die Schrift in den lebenden Baum zu integrieren und damit das reale Vorhandensein eines nicht realen Gegenstandes zu betonen, fand ich doppelt faszinierend. Denn das Besondere an meinem Pissoir war, daß es sich zwar nicht wirklich um ein solches handelte, also die Aussage "Ceci n`est pas un pissoir" zutreffend war, daß es sich jedoch trotzdem um ein real vorhandenes Objekt, ja sogar ein Lebewesen handelte, also nicht bloß um eine Abbildung eines solchen im Sinne Magrittes. Dadurch erhielt diese sprachliche Ebene des Kunstwerks eine doppelte Dimension.

Zunächst schrieb ich den Satz "Ceci n`est pas un pissoir" mit weißer Kreide auf den Baumstamm, um zu überprüfen, wie ich ihn optisch am günstigsten aufteilen konnte. Anschließend besorgte ich mir aus dem Materialfundus Holzschnittwerkzeug, probierte die bestgeeignete Messerbreite aus und schnitt dann den Satz vorsichtig in die Baumrinde hinein, was sehr gut funktionierte.

Beim Betrachten des Ergebnisses gefiel mir der helle Braunton der frischen Rinde sehr gut. Schon nach relativ kurzer Zeit dunkelte das Braun jedoch nach, so daß die Schrift nicht mehr deutlich genug zu erkennen war. Dies veranlasste mich, den Satz mit weißer Kreide nachzuziehen. Das helle Weiß harmonierte gut mit dem Weiß des Beckenrandes, ließ die Schrift sehr gut zur Geltung kommen und trotzdem war noch erkennbar, das diese in die Rinde hineingeritzt wurde.

Ceci n´est pas un pissoir 2

 
Ich habe mit meinem Pissoir drei Schritte vollzogen:
Zunächst nahm ich Duchamp Ready-made-Begriff auf. Doch erklärte ich nicht einfach einen Gegenstand zum Ready-made, sondern benutzte im zweiten Schritt einen Baum als Medium, um dem Pissoir eine andere Materialität zu geben. Dabei griff ich auf Oldenburgs Konzept zurück, einem Objekt (z.B. einer Toilette) durch eine neue Materialität seine Funktion zu entziehen.
Ich bemühte mich einerseits, den Anschein eines Pissoirs zu erwecken, andererseits ein funktionsloses Objekt zu schaffen.
Mit Magritte, der sich mit dem Sein und Schein der Dinge befaßte, problematisierte ich die Ambivalenz zwischen Funktion und Scheinfunktion bezogen auf die Objektebene.
Mein Objekt hat nur scheinbar die Funktion eines Pissoirs, eine wirkliche Funktion hat es nicht, hoffentlich nicht!?

 
 
Verfasserin: Verena Hamm - Technische Realisierung: Moulay El Hadi Moujahid März 1999